Deutsches Reichsgericht

D E U T S C H E S    R E I C H S G E R I C H T

Das Reichsgericht war von 1879 bis 1919 (bzw. im Sinne der Nazis bis 1945) der für den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständige oberste Gerichtshof im Deutschen Reich. Seinen Sitz hatte es in Leipzig.

Seine Zuständigkeit umfasste die Zivil- und Strafrechtspflege, die in den unteren Instanzen von den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten ausgeübt wurde. Ferner betreute das Reichsgericht verwandte Spezialrechtsgebiete wie etwa das Berufsrecht in der Rechtspflege. Mit dem Reichsgericht verbunden war das Reichsarbeitsgericht (III. Zivilsenat), angegliedert waren der Disziplinarhof, der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte, das Reichsschiedsgericht, der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, das Reichsbahngericht und das Wahlprüfungsgericht beim Reichstag. Neben dem Reichsgericht bestanden der Reichsfinanzhof, das Reichsversicherungsamt (mit Reichsversorgungsgericht) und das Reichswirtschaftsgericht.

Nach umfassender Wiederherstellung wird das Reichsgerichtsgebäude seit 2002 durch das BRD-Unternehmen Bundesverwaltungsgericht, als Sitz in Anspruch genommen.

Das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig bei Nacht

Dienstsitz

Die Georgenhalle in Leipzig, von 1879 bis 1895 Sitz des Reichsgerichts

Einweihung Reichsgerichtsgebäude 1895

Das Reichsgericht nahm am 1. Oktober 1879 auf Anordnung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze seine Tätigkeit auf.

Dienstsitz des Reichsgerichts war Leipzig. Angesichts der im Bundesrath umstrittenen Standortwahl fiel Berlin nur knapp mit 28 Stimmen (Leipzig 30 Stimmen) durch. Leipzig war schon Sitz des Bundesoberhandelsgerichts des Norddeutschen Bundes, des späteren Reichsoberhandelsgerichts. Es entschied über Streitigkeiten nach dem Allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861.

Bis 1895 tagte das Gericht in der Georgenhalle, den 1857 erbauten ehemaligen Leipziger Fleischhallen Brühl 80/Goethestraße 8. Das Gebäude, das auch das Café Fürst Reichskanzler beherbergte, wurde 1943 zerstört. Nach Fertigstellung des 1888 bis 1895 von Ludwig Hoffmann und Peter Dybwad errichteten historistischen Neubaus zog das Gericht 1895 in das neue Reichsgerichtsgebäude.

Zusammensetzung

Das Reichsgericht wurde mit einem Präsidenten und der erforderlichen Anzahl von Senatspräsidenten und Räthen (Reichsgerichtsräthe) besetzt. Beim Reichsgericht wurden Zivil- und Strafsenate gebildet, deren Anzahl der Reichskanzler bestimmte. Ursprünglich gab es fünf Zivil- und drei Strafsenate. Die Zivilsenate wurden üblicherweise mit römischen, die Strafsenate mit arabischen Ziffern bezeichnet. 1884 kam der 4. Strafsenat hinzu, 1886 der VI. Zivilsenat. Der VII. Zivilsenat bestand von 1899 bis 1919; der 5. Strafsenat von 1906 bis 1919. Feriensenate gab es von 1880 bis 1919.

Wollte ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senates abweichen, so hatte dieser, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren, die Verhandlung und Entscheidung an die Vereinigten Zivil- oder die Vereinigten Strafsenate zu verweisen. Der Präsident, die Senatspräsidenten und die Reichsgerichtsräthe wurden auf Vorschlag des Bundesraths vom Kaiser ernannt. Voraussetzung dafür war die Befähigung zum Richteramt und die Vollendung des 35. Lebensjahres. Im Reichsgericht bestand eine Gerichtsschreiberei. Beim Reichsgericht wurde die Reichsanwaltschaft als Staatsanwaltschaft eingerichtet.

Zuständigkeiten

Das Reichsgericht war ein ordentliches Gericht. Es war zur Entscheidung über Strafsachen und Zivilsachen (Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, Rechtshandlungen des Staates als Fiskus, Handelssachen, Arbeitsrecht) berufen. Zuständig war das Reichsgericht auch für das Staatshaftungsrecht.

Territorial umfasste der Zuständigkeitsbereich 28 Oberlandesgerichtsbezirke.

Im Instanzenzug hatte das Reichsgericht in der Regel geborene (d. h. durch Gesetz zwingend vorgegebene) Zuständigkeiten. Lediglich bei der Revision gegen Berufungsurteile der Strafkammern in Strafsachen betreffend Abgaben, die in die Reichskasse flossen, war seine Zuständigkeit anfangs gekoren (d. h. erst auf Antrag der Staatsanwaltschaft entstanden).

Als geborene Zuständigkeiten hatte das Reichsgericht im Zivilrecht Entscheidung über die Revision gegen Endurteile und Beschwerden gegen Beschlüsse der Oberlandesgerichte (Kammergericht) zu fällen (§ 135 GVG). Daneben war es Berufungsinstanz gegen Entscheidungen des Patentamts im Patentnichtigkeits-, Patentrücknahme- und Zwangslizenzverfahren und in diesem Bereich zweite Tatsacheninstanz (§ 33 PatG 1891). 1900 kamen oberlandesgerichtliche Vorlagen weiterer Beschwerden in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit hinzu (§ 28 FGG).

Als geborene Zuständigkeit im Strafrecht war es zur Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision gegen die Urteile der Strafkammern erster Instanz und der Schwurgerichte berufen, wenn nicht die Zuständigkeiten der Oberlandesgerichte (Kammergericht) begründet war (§ 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG). Das war der Fall, wenn ausschließlich eine Norm aus dem Landesrecht verletzt war. Das Reichsgericht war somit nicht zuständig für Revisionsverfahren bei Straftaten, in denen die Amtsgerichte erstinstanzlich entschieden. Das waren Verfahren wegen leichter Delikte (z. B. Übertretungen, Hausfriedensbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung bis zu einem Wert von 25 Mark). Sie konnten nur bis zum Oberlandesgericht angefochten werden.

Das Reichsgericht entschied bis 1919 in erster und letzter Instanz für die Untersuchung und Entscheidung in Fällen des Hoch- und Landesverrats, wenn diese Verbrechen gegen Kaiser oder Reich gerichtet waren (§ 136 Abs. 1 Nr. 1 GVG). Eine Rechtsmittelinstanz bestand insofern nicht. In dieser erstinstanzlichen Zuständigkeit war das Reichsgericht Tatsacheninstanz. Auch diese Zuständigkeit war geboren. Das Reichsgericht führte keine eigenen Ermittlungsrichter. Für die Entscheidungen vor Erhebung der öffentlichen Klage durch den Oberreichsanwalt, welche nach der StPO dem Richter oblagen, waren die Ermittlungsrichter an den Landgerichten zuständig (heute an den Oberlandesgerichten und am Bundesgerichtshof). Bis 1919 erledigte der erste Senat die Geschäfte der gerichtlichen Voruntersuchung, die nach der StPO a.F. bis in die 1970er-Jahre möglich war, und entschied über die Beschwerden betreffend die Entscheidungen des Ermittlungsrichters; das Hauptverfahren fand vor dem vereinigten zweiten und dritten Senat statt.

Registerzeichen

  • Revisionen (und Berufungen in Patentsachen): kein Kennzeichen;
  • erstinstanzliche Strafsachen: C (bis 1919)
  • Beschwerden bis 1910: Beschw
dann (insbesondere nach FGG): B
sonstige Beschwerden in Zivilsachen: GB
sonstige Beschwerden in Strafsachen: TB
  • Armenrecht: A

Aktenzeichenbildung: Während für die Zivilsenate durchgängig römische Ziffern standen, wurden die Strafsenate im Aktenzeichen anfangs gar nicht, von 1906 bis 1919 ebenfalls mit römischen Ziffern und danach mit arabischen Ziffern bezeichnet. Die Aktenführung richtete sich nach den Vorschriften über Einrichtung der Gerichtsschreiberei bei dem Reichsgerichte.

Rechtsprechung des Reichsgerichts

Wilhelminisches Reich, Deutsches Reich Deutschland 1879–1919

Das Reichsgericht war mit Ausnahme seiner Zuständigkeit in Hoch- und Landesverratssachen eine reine Rechtsmittelinstanz. Seine Aufgabe war es, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem gesamten Reichsgebiet sicherzustellen, denn ein zentrales Zivilgesetzbuch war noch nicht kodifiziert und die partikular geltenden Privatrechtsordnungen aufeinander unabgestimmt. So galten beispielsweise PrALR, rheinisches, badisches-, sächsisches oder unkodifiziertes römisch-gemeines Recht nebeneinander. Insgesamt galt es, etwa 46 wichtigeren Partikularrechten gerecht zu werden. Die Harmonisierung fiel dem Reichsgericht letztlich nicht so schwer, wie es der erste Blick vermuten läßt, denn der pandektistisch geprägte Universitätsbetrieb und das ebenso pandektistisch durch Windscheid, Vangerow und Brinz aufbereitete Lehrwissen des dominierenden gemeinen Rechts prägte Richter, die sich in der Rechtszersplitterung zurechtfanden.

Das Reichsgericht wurde seit seiner Etablierung von Kritikern als Fortsetzung des Preußischen Obertribunals interpretiert. Die Richterschaft war monarchisch-konservativ geprägt, besonders im Bereich des Strafrechts waren zur Zeit des Kaiserreichs kritische Stimmen am Gericht in der Minderheit – so auch in anderen damaligen staatlichen Institutionen. So wertete das Gericht es im Jahre 1912 beispielsweise als Beleidigung, daß die sozialdemokratische Partei 1907 eine Broschüre herausbrachte, die sich an Beamte richtete und diese zur Wahl der SPD aufforderte – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die SPD bereits die stärkste Fraktion im Reichstag stellte. Ferner führte das Reichsgericht in seinem Urteil vom 12. Oktober 1907 im Hochverratsprozess gegen Karl Liebknecht aus, die unbedingte Gehorsamspflicht der Soldaten gegenüber dem Kaiser sei eine zentrale Bestimmung der Verfassung des Kaiserreichs. Dagegen hatte der Angeklagte im Prozess vergeblich betont, kaiserliche Befehle seien null und nichtig, wenn sie einen Bruch der Verfassung bezweckten.

Auf der anderen Seite ergingen auf dem Gebiet des Zivilrechts in dieser Zeit einige wegweisende Entscheidungen, die noch heute Gültigkeit besitzen. So bejahte das Reichsgericht die damals gesetzlich nicht geregelte vorvertragliche Haftung (culpa in contrahendo), abgekürzt c.i.c. Die c.i.c war jahrzehntelang ein in der Rechtsprechung und der Literatur anerkanntes Haftungsinstitut, bis sie im Wege der 2002 in Kraft getretenen Schuldrechtsreform Gesetz geworden ist. Ferner entwickelte das Reichsgericht die Kategorie der „positiven Vertragsverletzung“, welche ebenfalls dem Bürgerlichen Gesetzbuch unbekannt war. Es entwickelte die Haftung aufgrund positiver Vertragsverletzung anhand der noch heute gültigen Vorschrift des § 276 BGB, wonach ein Schuldner für vorsätzliches bzw. fahrlässiges Handeln haftet. Die positive Vertragsverletzung war jahrzehntelang gewohnheitsrechtlich anerkannt.

Präsidenten des Reichsgerichtes

Nr. Name Amtsantritt Ende der Amtszeit
1 Eduard von Simson (1810–1899) 1. Oktober 1879 1. Februar 1891
2 Otto von Oehlschläger (1831–1904) 1. Februar 1891 1. November 1903
3 Karl Gutbrod (1844–1905) 1. November 1903 17. April 1905
4 Rudolf Freiherr von Seckendorff (1844–1919) 18. Juni 1905 1. Januar 1920

Bibliothek

Die Bibliothek des Reichsgerichts umfasste weit über 200.000 Buchbände und über 8 Zeitschriftentitel; ihr Etat lag bei 55.000 ℳ.

Direktoren:

  1. 1879–1917 Karl Schulz
  2. 1917–1919 Erich von Rath

Auflösung des Reichsgerichtes durch die Alliierten

Mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurde 1945 das Reichsgericht durch die Alliierten aufgelöst und bisher nicht wieder errichtet.

Aktivierung des Reichsgerichts gemäß Reichsverfassung

Im Jahr 2010 wurde durch ein Gesetz das durch die beiden gesetzgebenden Organen verabschiedet wurde, das Reichsgericht wieder in Kraft gesetzt ( https://www.deutscher-reichsanzeiger.de/rgbl/rgbl-1003283-nr5-reichsgericht-in-kraft/ ) Zitat: „Das Reichsgericht, gemäß Reichs-Gesetzblatt Nr. 17 vom 11. April 1877 mit Sitz in Leipzig, beginnt mit dem Tag der ersten Sitzung vom 23. März 2010 erneut seine Tätigkeit.“

Weblinks

Commons: Reichsgericht – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Geschäftsverteilung

 

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